Der Zyklus „WELTFIGUREN“

Wie der Maler die Helden seines Lebens sucht und wer sie sind

Vieles im Werk von Albrecht Gehse zeigt sich im Rückblick als ein Zugehen auf sein neues Projekt mit dem Titel WELTFIGUREN. Alles Machen ist Vorbereitung auf Weiteres: Der Weg von TRANSIT zu WELTFIGUREN bedeutet weder inhaltlich noch formal einen grundsätzlichen Neuanfang. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, den zeitgeschichtlichen Kommentierungen der TRANSIT-Bilder Porträts von Personen hinzuzufügen, die die Lebenszeit des Künstlers prägen oder geprägt haben. Der Maler Gehse schreibt mit diesem Zyklus seine Autobiografie in Bildern.

Er verbindet darin die Leidenschaft für das Porträt mit der Lust, jene Männer und Frauen aufzuspüren, die der Welt ihr Gesicht gegeben haben. Die Auswahl der Welt-Figuren erfolgt ausschließlich nach dem persönlichen Verhältnis, das er zu ihnen hat. Er beansprucht nicht die Rolle des Chronisten, sondern arbeitet mit jedem Bild an einem Archiv von persönlichen Identifikationsfiguren. Wer waren die Stars der Filme, die ihn beeindruckt haben? Wer die großen Sportler, denen er gebannt zugeschaut hat? Wer die Künstler, denen er applaudiert hat? Wer die Schriftsteller, die er begeistert gelesen hat? Wer die Politiker, die ihn auf einen guten Ausgang der Weltgeschichte haben hoffen lassen?

 John F. Kennedy war es als Politiker, Thomas Mann und Ernest Hemingway als Schriftsteller, aus der Musik porträtierte er bisher Maria Callas und Herbert von Karajan, Aretha Franklin, Freddie Mercury und Louis Armstrong, seine Leinwand-Helden Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Romy Schneider und Alain Delon und aus der Welt seiner Sport-Ikonen Muhammad Ali, Niki Lauda und der Basketballer Michael Jordan, nicht zu vergessen aus der Welt der Mode das Paar Claudia Schiffer und Karl Lagerfeld. 

Bis heute (Frühjahr 2021) umfasst der Zyklus im ersten Teil 29 Bilder. Dazu gibt es eine kleine Gruppe Bilder, die „um den Zyklus herum“ entstanden sind. Sie stellen formale wie inhaltliche Annäherungen an WELTFIGUREN dar, sind später von neuen, vertieften Variationen verdrängt worden, bleiben aber als Einzelbild für den Künstler gültig.

Eine wichtige Frage für jeden Porträtmaler ist die Einbeziehung von Fotos in die Bildentstehung. Selbst Bundeskanzler Helmut Kohl ist zu mehreren Sitzungen in das Atelier von Albrecht Gehse gekommen. In der Kunstgeschichte finden sich viele Beispiele, die historische Persönlichkeiten darstellen oder bei denen man weiß, dass die Person für den Maler unmittelbar nicht erreichbar war. Dadurch ist das Malen nach vorhandenen Abbildungen unverzichtbar. Bei Gehse sind Fotos für seine Porträts aber nur Teil seiner Vorbereitung auf ein Bild. Während des Malprozesses löst er sich fast vollständig vom Foto und malt die Person nach dem Eindruck, den sie (ausgelöst vom Foto) in ihm hinterlassen hat. Nach einer Selbstaussage hat das zu Hilfe genommene Foto seine Aufgabe erfüllt, wenn die Person gewissermaßen neben ihm sitzt. So lässt sich auf seinen Porträts die erstaunliche Tiefe und Lebendigkeit des Ausdrucks erklären.

Man schaue in das von Ernst und Besorgnis gezeichnete Gesicht Thomas Manns, der sich zwischen 1940 und 1945 aus seinem amerikanischen Exil an deutsche (Radio-)Hörer wandte; man betrachte die stille Schönheit Romy Schneiders, die der Maler auf einem Filmplakat in der Situation einer nächtlichen Bushaltestelle präsentiert, und glaubt darin die spätere Tragik ihres Lebens zu erahnen; Claudia Schiffers Gesicht strahlt die Bewunderung für ihren „Schöpfer“ Karl Lagerfeld aus; in den Gesichtern vom jungen Michael Jackson und von Cassius Clay bzw. Muhammad Ali liegt nicht nur das Heldische, sondern auch die Angst, ihren Ruhm nicht verteidigen zu können. Auch in die verschiedenen Porträts von John F. Kennedy scheint sein späteres Schicksal bereits eingeschlossen. 

Fast immer sucht der Maler die Brüche im Leben seiner Helden im Bild zu fassen. Von Aretha Franklin erzählt er in drei Gesichtern – das erste gehört zu einem Poster an einer bröckelnden Hauswand – ihre Lebensgeschichte. Es braucht nicht viel Phantasie des Betrachters, um bei den zwei Porträts von Louis Armstrong seine Trompete zu hören, so intensiv sind die Gesichter. Aber nicht nur die Gesichter sind es: Bei Armstrong entsteht Klang auch aus dem diffusen blauen Raum, in dem beide Köpfe gewissermaßen „freigestellt“ sind. Ihre gelbe Rahmung lässt den steilen Ton seiner Trompete hören. Beim Porträt des Dirigenten Herbert von Karajan übersetzt der Maler die Gewalt der Musik in die Gewalt des Meeres. Der auf den höchsten Spannungspunkt gebrachte Körper kündigt das bevorstehende Eintauchen der Arme in das Meer der Töne an. Nicht zuletzt auf diesem Bild hat der Maler die Aufgabe der Porträtähnlichkeit hinter sich gelassen und bezieht die Ausdruckskraft des Bilds viel stärker aus Körperlichkeit und Bildumfeld.

Zwei weitere Besonderheiten sollen nicht übergangen werden. Ein Zyklus aus 29 Einzelbildern verlangt das ganze malerische Können des Künstlers. Es spiegelt sich für den Betrachter nicht zuletzt in der Vielfalt der gefundenen Bildlösungen. Keines der Porträts wiederholt sich in Anlage und Aufbau. Das Nebeneinander der Bilder in einer Ausstellung wird bestätigen, dass die Bildfolge einen erkennbaren Rhythmus besitzt. Er entsteht nicht zuletzt aus dem Wechsel der Formate. Den großen Bildern – GUT FESTHALTEN, das Auftaktbild, hat eine Höhe von 2,40 m und eine Breite von 2,60 m – stehen mit FAST ROTKÄPPCHEN (Katarina Witt), DIE HÖHLE und DER SCHIRM (Pablo Picasso I und II) und SCHWARZ AUF WEISS (Michael Jackson) gegenüber. IN ABWESENHEIT (Joseph Beuys) als das Kleinste misst nur 24 cm Höhe und 18 cm Breite. 

Die zweite Besonderheit stützt ebenso den Rhythmus der Bildfolge. Der Maler legt großen Wert darauf, den Charakter der Bilder, ihr Temperament zu wechseln. Lässt er in manchen Bildern die spätere Lebenstragik ahnen (Romy Schneider, J.F. Kennedy, Michael Jackson u.a.), so sucht er in anderen Darstellungen Humor und Witz. Von Joseph Beuys sehen wir nur den Hut und an seiner Statt hockt ein Hase, die Frau, die mit einem schwebenden Sonnenschirm hinter Picasso schreitet, verleiht dem Meister die von ihm bekannte Macho-Pose. Gehse formuliert daraus keinesfalls einen Vorwurf, sondern macht es – als sähe er sich in dieser Beziehung verwandt – augenzwinkernd. Wenn Katarina Witt auf der kleinsten Eisfläche im Wald einem Raben vortanzt, dann zeigt das Bild einschließlich des Titels FAST ROTKÄPPCHEN freundlichsten Humor.

Entstanden sind Porträts mit suggestivem Ausdruck. Der Maler sucht über die Ähnlichkeit hinaus nach dem Stoff für eine persönliche Erzählung. Wieder geht es – wie immer in seinem Werk – um die Schaffung von Mythen. Der Mythos verlangt mehr. Die Figur an sich erfüllt diesen Anspruch noch nicht. Der Maler sucht nach der bzw. einer Geschichte, die ihn bewogen hat, die Heroes seines Lebens in ein inneres Archiv aufzunehmen. Vielfach legt er seine WELTFIGUREN als Doppelporträts an, weil er das Komplexe ihrer Biografie freilegen will. Bei anderen hinterfragt er den bekannten Mythos, mit dem sie in die Zeitgeschichte eingegangen sind: Marlene Dietrich, eine Ikone weiblicher Schönheit, zeigt er im Wechselspiel von Jugend und Alter, Ernest Hemingway als jemanden, der seine Männlichkeit noch auf dem Grund einer überfluteten Landschaft verteidigt und Freddy Mercury malt er als großen Verführer, dem sein Publikum diese Macht in die Hände legt.

Bereits am Anfang seines Wegs als Maler hat sich Gehse mit dem Porträt beschäftigt. In der Leipziger Thomaskirche findet sich das im Jahr 2000 entstandene altmeisterliches Porträt des Superintendenten Johannes Richter. Es hängt nahe der Grabplatte für Johann Sebastian Bach. Nicht zuletzt hat er sich mit seinem Porträt von Bundeskanzler Helmut Kohl 2003 in die erste Reihe deutscher Porträtmaler gestellt. Im Zyklus WELTFIGUREN verlässt sich Gehse nicht allein auf seine außergewöhnliche Porträt-Fähigkeit, nie wollte er eine Autogrammkarten-Galerie schaffen. Der Künstler will mehr. Auch in diesem Zyklus erweist er sich als ein literarischer Maler, der nach der Geschichte sucht, die ihm die WELTFIGUREN erzählen. Dafür nutzt er das Bildumfeld.

Albrecht Gehse weiß genau, dass die Erzählung eines Malers ein Vorgang ist, in den sich das Sujet und die malerischen Mittel teilen. Die Sprache des Malers auf seinen Bildern sind Farbe, Form, Linie. Die Hommage an John F. Kennedy stellt den US-Präsidenten auf allen drei Bildern von ihm in einen Zusammenhang mit dessen Vision vom Flug zum Mond, gleichzeitig aber auch mit der Farbe Blau. Der Künstler hat sich für diese Blau-Dominanz entschieden, weil er nicht nur die Kennedy-Figur im Raum situieren will, sondern mit der Oberfläche des Mondes bzw. der Erde eine Malfläche wollte, die ihm maximale malerische Freiheit gestattet. – Auch das Niki Lauda gewidmete Diptychon ENDE DER GESCHWINDIGKEIT nutzt die Möglichkeit des Doppelbilds für erzählerische wie malerische Möglichkeiten. Auf der linken Tafel findet der Rausch der Geschwindigkeit in Auto und Flugzeug Ausdruck im Schrei des Porträtierten. Der Schrei ist aber gleichzeitig vorsichtige Andeutung eines Kipppunkts. Gibt es in den vom Flugzeug abspringenden weißen Spritzern nicht erste Anzeichen einer Störung? Gehse wendet das Bild vollends ins Gleichnis, wenn er auf der rechten Bildtafel die Katastrophe anschließt und somit ausdrücklich den Bildtitel ENDE DER GESCHWINDIGKEIT erfüllt. Dem Geschwindigkeitsrausch folgt ein Farbrausch bei der Darstellung des brennenden Rennwagens, eine malerische Gelegenheit für seine Mal-Wut, die sich der Künstler nicht entgehen lässt. Nahezu auf jedem Bild zeigt er Lust an der Abstraktion, allerdings immer auf einer Stufe, die nicht den Realismus aus dem Blick verliert. Das deutlich sichtbare Interesse am Erzählen – es sei noch einmal betont  übersetzt der Maler im Zyklus WELTFIGUREN in die Sprache der Bilder.

Nicht nur als Kinder hatten wir Heroes, denen wir gleichen wollten. Wir bedürfen unser ganzes Leben Heroes, deren schattenlose Leistung uns anspornt. Diesem Gedanken folgt der Künstler in seinem aktuellen Zyklus. Wenn er in beeindruckender Intensität WELTFIGUREN auf die Leinwand bringt, malt er prägende Figuren seines Lebens. Der Maler ist beim Grundthema der Kunst: Sie erzählt vom Künstler. Der Maler und Performer Hartwig Ebersbach, mit dem Gehse in seiner Leipziger Zeit in der Künstlergruppe 37, 2 verbunden war, antwortete auf die Frage, was er male: Er arbeite an sich, weil jedes Bild eine wie auch immer geartete Selbstdarstellung sei. Auch diese Äußerung geht in ähnlicher Form auf Max Beckmann zurück, der in seinem Aufsatz „Über Malerei“ 1938 schrieb: „Das ICH ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt, es muss alles getan werden, um es gründlicher und tiefer zu erkennen.“ Auch darin zeigt sich Gehse in Beckmanns Kunstwelt einbezogen, denn auch er bekennt sich in seiner Kunst dazu, dass die Abänderung des optischen Eindrucks der Welt „durch eine transcendente Mathematik der Seele“ entsteht. Der Künstler nicht als Abbilder, sondern als Medium, bei dem das Ich das Bild mitschreibt. 

Und noch ein Zweites: Es handelt sich bei Albrecht Gehses WELTFIGUREN-Zyklus um den aus meiner Kenntnis einmaligen Versuch eines Malers, seine eigene Biografie in einer Bild-Folge von Personen der Zeitgeschichte zu erzählen. Warum er sie auswählte und wie sehr sie sein Leben bestimmten, bleibt Deutungsraum für den Betrachter.

(Michael Hametner, Juli 2021)