Stürme, Vulkanausbrüche und der Anbeginn der Welt Zum Bildzyklus „KREATUREN UND PHÄNOMENE“ von Albrecht Gehse

Geschichte und Heroismus sind siamesische Zwillinge, die oft fratzenhaft wirken, vom Stoffwechsel aus Ideologie und Politik am chimärischen Leben erhalten. Der Maler Albrecht Gehse mischt sich mit seinem neuen Bildzyklus an diesem Punkt wirkungsstark ein.

In Betrachtung seines neuen Zyklus fiel mir die Bronzeskulptur ein, die im keltischen Museum von Hallein zu sehen ist und einen sterbenden keltischen Krieger zeigt. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, aber Feldherren haben dafür keine Zeit; sie überlassen das Malern und Dichtern.

Für mich war der „sterbende Krieger“ im Museum von Hallein ein Startpunkt zum Verständnis für den aktuellen Zyklus aus der Malerwerkstatt von Albrecht Gehse, der sich damit einmal mehr als rebellischer Zeitdiagnostiker dem Wüten der Welt stellt. Läßt sich der Betrachter auf diesen riskanten Standpunkt ein, verläßt er zwangsläufig Meinungskorridore und setzt sich dem Atem der Weltgeschichte aus. Ohne Mundschutz.

Weltgeschichte? Ein Wort, das unweigerlich Wellen über einem zusammenschlagen läßt.

Wer überleben will, muß schwimmen, und den Elementen trotzen. Den Herzrhythmus stabil halten, bei sich bleiben. Setzt sich die Welt nicht aus den alltäglichen milliardenfachen Versuchen des Überlebens zusammen? Nichts weniger als das scheint in den Bildern des Malers auf die Leinwände gebannt: prismatisch gebrochener Zustand einer Menschheit, die in Kulturen und Religionen zersplittert ist.

Jeder Seinsraum beharrt auf Ganzheit und Einzigartigkeit, das Individuum genauso wie die Gesellschaft. Die sich daraus ergebenden Konflikte bestimmen von jeher den Weltenlauf, der zur Zeit von Luther, Dante oder Gilgamesch nicht weniger verworren war als heute.

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Brüche, die nicht geheilt werden, indem die Sieger ihre Sicht der Kriege monumentalisieren, wenn es auch bis heute gängige und durchaus erfolgreiche Strategie ist. Eine Strategie, die mit dem Gesang der Sirenen gleichgesetzt werden kann: Gleich Odysseus bindet sich jede Schiffsgesellschaft am Mast fest, um den Verlockungen zu widerstehen und heil heimzukehren in den Hafen. Im Meer der Geschichte aber gibt es keinen Hafen, denn die Tage stürzen in Wellen ineinander und lassen dem Einzelnen im besten Fall nur eine hauchdünne Klammer für biographische Angaben.

Aus biographischen Angaben, den Zeichen individueller Wahrnehmung, setzt sich allerdings unsere Geschichte zusammen – trotz aller politisch und ideologisch gewollter Umwidmung.

Lassen wir uns diese Prämisse als Grundlage für die folgende Betrachtung zum Bildwerk von Albrecht Gehse nehmen und kalkulieren dabei die Position von Ludwig Wittgenstein ein: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Wahrnehmung“.

Albrecht Gehse holt weit aus, um seine Existenz ganz physisch der Welt und ihren Wellen entgegenzuwerfen. Den Bildern ist die Körperlichkeit anzumerken, mit der dieser Maler agiert. Er findet sich einer schöpferischen Situation ausgesetzt, die keinen ikonographischen Bezug mehr erlaubt. Wer um sein Leben schwimmt, denkt nicht darüber nach, wie andere geschwommen oder ertrunken sind. Der muskuläre Duktus seiner Bildfindungen läßt keine Zeit für leise Bezugnahme auf den visuellen Diskurs gegenwärtiger Strömungen in der Bildenden Kunst und mündet zwangsläufig in einer radikalen Position, die dem Maler den roten Teppich in das Risiko ausrollt. Das lädt seine neuesten Bilder mit der Beharrlichkeit des Renitenten auf, dem es um ein gesellschaftliches Tabula Rasa aus seiner künstlerischen Sicht geht. Deshalb, und das ist der eigentliche Spannungsmoment der neuen Serie, stellt der Maler Widersprüche, die unsere zeitgenössische Gesellschaft kaum auszuhalten vermag, in Tableaus zusammen. In „Erscheinung (2022) erscheint der Planet Erde entrückt, eine Frau schreitet durch das blutrote Wasser eines Pools– wissen wir noch, wo wir uns befinden, oder sind wir ver-rückt geworden von den virtuellen Möglichkeiten, die uns die digitale Welt zu eröffnen scheint? Wäre eine Rückkehr Liliths wünschenswert, damit der „alte Adam“ endlich einmal in den jahrtausendealten Rückspiegel schaut und den Fuß vom Gaspedal nimmt? Ist der Absturz in die See, wie in „Küste“ (2023) formuliert, ein dem propagierten Klimawandel Rechnung tragendes Menetekel, eine Verneigung Richtung Caspar David Friedrich oder eine Einladung zur Betrachtung der Natur, die es meistens besser weiß als der Mensch? Und was macht „Abdul mit dem Hammer“ (2024)? Zerhackt er die Gesellschaft, den Volkskörper oder die Gegenwart des Betrachters? Die Antwort gibt der Maler mit „Uferlos“ (2021) und stellt sich damit als Kreator seiner Bildwelt mitten in den tobenden Sturm, den er mit „Kreuzsee“ (2023) in alles verschlingender Gewalt fühlbar in Szene setzt.

Gehse tut dies vor dem Hintergrund einer der Aufklärung und den Menschenrechten verpflichteten europäischen Geisteskultur, die er wanken sieht. Von diesem Wanken wußte Henry Kissinger, der kürzlich hochbetagt gestorbene frühere Außenminister der USA, dessen Portrait in „Balance“ und „Zwischen den Blöcken“ (beide 2023) erscheint. Die beiden Portraits einer ebenso bewunderten wie umstrittenen Figur der politischen Weltbühne lädt den historischen Bogen, den der Maler in dieser Serie aufspannt, mit Dramatik auf. Der gleiche Puls ist in „David und Goliath“ (2023), „Der Trommler I und II“ (2023) und „Siegesfeier“ (2024) zu spüren.

Mit diesem bildkünstlerischen Beziehungsgefüge stellt der Maler in Frage, was wir im sogenannten Westen zu wissen meinen, kehrt das Unterste noch oben, verschachtelt Tableaus, hebelt Gewißheiten aus, spielt mit kollektiver Gereiztheit, provoziert und evoziert. Für den Autor dieser Betrachtung war es reizvoll, den assoziativen Aspekten in diesem Malkomplex nachzugehen; und siehe da, die bildgewordenen Unterströmungen reichen mit „Die unter Wasser sieht man doch“ (2024) zurück in den Anbeginn der Welt, denn es ist der Titan Okeanos, der nach antiken griechischen Glaubensvorstellungen die Ozeane und Flüsse beherrscht. Dieser urtümliche Onkel des Zeus hat sich aus dem Kampf zwischen Göttern und Titanen herausgehalten und mit seiner Frau Tethys eine große Familie gegründet, aus der sagenhafte dreitausend Kindern hervorgingen. Kommt Okeanos deshalb als Gewährsmann für den Maler nicht in Betracht? Doch, Okeanos Attribute Schlange und Fisch, die zum metaphorischen Basismaterial des Malers gehören, deuten es an, und Gehse bringt mit diesem Bild seinen Zyklus auf den verwirrenden Punkt: Ordnungen lassen sich nur wider die Ordnung erhalten, oder sie gehen in den Wellen auf.

Im Vergleich zu früheren Serien, die ähnlich komplex angelegt sind und intermotivischen Bezugnahmen als einkalkuliert erscheinen lassen, verläßt der Maler die Position des distanzierten Weltenbetrachters, gibt sich bis zur Erschöpfung der Schöpfung hin und begreift sich mit jedem Pinselhieb als deren Teil.

Radjo Monk, 21.03.2024