Zu Albrecht Gehses zwischen 2021 und 2024 entstandener Serie „KREATUREN UND PHÄNOMENE“

Nach seinen Zyklen „Zeitenwende“, „Aufruhr – 50 Bilder über die Welt“, „Transit“ und „Weltfiguren“ überrascht der Künstler mit einer neuen Serie: „Kreaturen und Phänomene“ umfasst 32 Bilder und ist zwischen 2021 und 2024 entstanden. Albrecht Gehses besondere Kunst des Porträts ließ ihn in „Weltfiguren“ die Größen der Zeit, die Heroes seines Lebens geworden sind, darstellen. Viel hat sich bewegt seitdem, in der Welt und im Leben des Künstlers, der sich in der Gegenwartskunst mit seinen Gesellschaftsbildern als großer deutscher Maler etabliert hat. Die Welt ist nicht sicherer geworden. Das, was sie bedroht, Kriege und Katastrophen erlebt Gehse als persönliche Erschütterung. Seine großformatigen Allegorien verstehen sich dem Thema Leben in Bedrängnis, Über-Leben in Bedrängnis verpflichtet. Er startete 1982 auf der IX. DDR-Kunstausstellung in die Kunstszene seines Landes mit den drei veristisch gemalten Figurenbildern „Der Kohlenmann“, „Kohlenträger Udo Hasenbein“ und „Unterwegs“ (alle 1981 entstanden). Von diesem Anfang für den Mittzwanziger bis heute gibt es in der Themenwahl, weniger in der Malweise, eine Brücke. Gehses Blick auf die Verletzten, Ausgegrenzten, sozial Deklassierten bildet unverändert einen Ausgangspunkt für seine Bildsprache. Mit den 32 Bildern von „Kreaturen und Phänomene“ greift er mit der Kraft seiner Bilder den Hochmut der Starken gegenüber den Schwachen an.

Der Jubel über den 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich im Jahr 2024 lockt nicht nur zu seinen Bildern, sondern auch zum einen oder anderen seiner künstlerischen Leitsätze. Von Friedrich stammt der Satz: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht.“ Hier liegt die Quelle seiner surreal-phantastischen Bilderfindungen.

Gehse eröffnet die Serie mit einem malerischen Paukenschlag. Er kombiniert auf dem Bild „Aufstieg“ Abstraktion und Figur. Die geometrischen Formen im oberen Bildteil (darin nicht zu übersehen ein menschliches Auge) werden darunter von einem wilden Farbrausch, der die Assoziation stürzenden Wassers schafft, gekontert. Den unteren Bildteil besetzen Eva mit Apfel und Schlange und ein roter Lachs, der – um sich fortzupflanzen – den Aufstieg schaffen muss, was dem Bild den Titel gab.

Wie oft bei Gehse, ist seine Kunst offen für unterschiedliche Deutungen. Sein Bild von der Welt ist viel zu weiträumig, um nur eine Interpretation zuzulassen. Nicht zum ersten Mal „verlässt“ er bei der Motivwahl die Erde, so im Bild „Die Erscheinung“. Was färbt das Wasser in dem Pool auf dem Mond rot? Hat auch außerirdisch bereits eine Schlacht stattgefunden? Trägt die Frau mit dem spitzen Hut einer Zauberin im Vordergrund dafür die Verantwortung? Bringt die Geigerin am Pool-Rand, die uns der Maler als blasse Erscheinung zeigt, Rettung?  – Der Maler bleibt seinen Bildfindungen gegenüber „neutral“, er will niemanden missionieren. Trotzdem greift er an. Das nächste Bild in der Serie – Gehse hat eine genau bedachte Reihenfolge festgelegt – mit dem Titel „Küste Klintholm“ gibt sich den Anschein einer idyllischen Naturdarstellung, zeigt aber im unteren Teil mit einem Geröllfeld verletzte Natur. Caspar David Friedrichs Blick in die Schlucht des Kreidefelsens – diesen Gedanken provoziert Gehse – ist 200 Jahre später in der Realität nicht mehr rekonstruierbar. – Wenn Abdul auf „Abdul mit dem Hammer“ den Hammer schwingt, weiß man nicht, ob er die Bewegung bereits angehalten hat oder ob er den Schlag ausführen wird. Gerichtet ist seine rohe Kraft (und Wut!) gegen eine Welt, deren „Stützen“ vom Balkon aus der Weltgeschichte zuschauen. Ob Abdul gegen sie den Hammer richten wird, bleibt offen. – Wieder hat der Künstler seinem großen Thema Leben in Bedrängnis eine neue Variante hinzugefügt.

Es folgt mit „Uferlos“ in der 32teiligen Serie eine von insgesamt vier Darstellungen vom aufgewühlten Meer. Dadurch, dass der Maler die Perspektive so gewählt hat, dass das Meer das Bild beherrscht, erhält es die Qualität eines Gleichnisses, zu dem auch der Bildtitel „Uferlos“ führt. Ein weiteres Mal – und das zeigt sich allein schon zahlenmäßig in seiner Serie „Kreaturen und Phänomene“ – macht er die Natur zum Hauptdarsteller. Er lässt in den Sturmbildern die Kraft des Meeres frei und mahnt damit den auf diesen Bildern abwesenden Menschen zum Respekt. – Wie der Maler in dem sich anschließenden Diptychon mit dem Titel „Wasser auf dem Mond“ den Bogen schlägt von Amerikas Präsidenten Kennedy (bezeichnenderweise im Kostüm eines russischen Bären) zu springenden Fischen auf dem Mond (zur Eroberung des Mondes hatte Kennedy 1962 mit den Worten aufgerufen: „Wir fliegen zum Mond, weil es schwer ist“), ist ein weiterer Blick in die phantastische Bildwelt des Künstlers.

Sein inneres Echo auf die äußere Welt ordnet Gehse beim Malen an der Staffelei keinem Bildplan unter. Er ist unverkennbar ein realistischer Maler, aber sein Realismus ist der des Traums, der Phantasie, des Unbewussten. Für den Künstler ist das Bild ein Medium universaler Phantasie. Wenn er dem Unbewussten als Maler folgt, tritt ein, was schon andere große Künstler festgestellt haben: Mitunter ist das Bild klüger als sein Schöpfer. Schon deshalb verbieten sich Nachfragen, die den Künstler mit Deutungswünschen quälen. Phänomene, die als Begriff im Titel der Serie auftauchen, sind außergewöhnliche Erscheinungen. Wahrnehmen können sie allein die Sinne, nicht aber der Kopf benennen. 

Konsequent übersetzt Gehse Gedanken und Visionen in phantastische Bilder. Er hat dafür eine ganz außerordentliche Gabe. So veranlasste beispielsweise seine Verehrung für den ehemaligen amerikanischen Außenminister die Entstehung von „Zwischen den Blöcken“ und „Balance“. Hier bleibt die Übersetzung nah am Leben der realen Figur, wenn er für den abstrakten Begriff „Blöcke“ Eisberge und für den Gedanken an die Balance zwischen West und Ost eine Hochseiltruppe erfindet. Beide Bilder sind kaum zehn Tage vor Kissingers Tod entstanden. Sie besitzen eine staunenswerte Intensität, das man glaubt, die leicht heisere Stimme Kissingers zu hören. – Die beiden Bilder „Trommler I“ und „Trommler II“ mit Porträts des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass benutzen komplexere Metaphern. Ein Trommler – und damit ist nicht nur sein Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“ gemeint – war der Schriftsteller innerhalb und außerhalb seiner Literatur. In Kenntnis der Biographie von Grass, sind es Fische, die gekehlt und ausgeblutet als Symbol des Friedens für den Weltkriegssoldaten Grass Gleichnis für die Würde des Sterbens sind. Eine Bildinterpretation, die von der Anwesenheit des Vergangenen in der Gegenwart ausgeht. Etwas, was vermutlich Leben und Werk von Grass ganz stark bestimmt hat.   

Immer wieder zeigt sich der Künstler angeregt von aktuellen Wahrnehmungen, auf die er aber nie direkt, sondern in der Sprache der Metapher reagiert. Dafür stehen u.a. die Bilder „Auf großer Fahrt“ – ein Flüchtlingsschiff mit einem schwarz-rot-goldenen Fähnchen als Zielort der Flucht -, „Auszug aus dem Paradies“ – das Triptychon, das die Kausalität von Zerstörung und Flucht sehr eindrucksvoll zeigt und dessen Bildteile sofort den Bezug zu den Kriegen in Syrien und in der Ukraine herstellen. Entstanden ist ein dreiteiliges Bild mit ikonographischer Wirkung. Ähnlich bei Gehses „Siegesfeier“, wo der Blutrausch den taumelnden Siegern die Sinne vernebelt. Antwort auf Gewalt und Barbarei gibt das Bild „Der Menschenzug“, in dem der Künstler die Vertreibung ausdrucksstark zum Bildthema gemacht hat.Gehses Gesellschaftsbilder schneiden wie ein Messer in unsere Zeit.   

Der Künstler – dessen gedankliche und formale Weiträumigkeit außerordentlich ist – übersetzt seine innere Welt in vielen seiner Bildfindungen in Traum und Albtraum. Finden wir auf der einen Seite das Meer sowie Fische und Seegetier als Projektionsflächen für das Thema Natur, so sind es in „Geträumt“, „Treffen am Kap“ und „Am Fenster“ das Erahnte und Unbewusste, dem er in seiner Bildsprache folgt. Dabei werden die stark von surrealen Elementen geprägten Gesellschaftsbilder zu Allegorien. Sie zeigen sich oft – vom Künstler der Verpflichtung zur Gegenständlichkeit und zum Abbild enthoben – als Blicke in eine gespenstische Welt.

Um der Direktheit des Ausdrucks, einem Abgleiten in den messianisch-politischen Raum zu entgehen, behandelt der Künstler die Leinwand als Ort von Traum und Albtraum. Bei „Geträumt“ hat er – wie es im Traum stattfindet – nicht zu verbindende und zu deutende Figuren auf der Leinwand versammelt. Ähnlich ist er bei „Treffen am Kap“ und „Das Fenster“ verfahren, zwei durch ihre gedankliche und formale Komplexität besonders aussagekräftige Bilder. Mit den Tableaus seiner Träume entpflichtet sich der Künstler, das Rätselhafte der miteinander verbundenen Figuren und Bildelemente aufzulösen.

Es soll nicht übersehen werden, dass Gehse zu den großen Gesellschaftsbildern mit „David und Goliath“ und mit „Heldenverehrung“ zwei kleinere Bilder stellt, die in der Auswahl eher den Charakter einer Arabeske besitzen. Auch ein so inniges Porträt („Frau mit blauer Bluse – Denisa“) hat er in die Serie aufgenommen. Damit zeigt der Maler von Gesellschaftsbildern, die angreifen, seine genauso vorhandene Fähigkeit zu stillen Bildern.

Der Künstler benutzt für seine Erzählungen eine eigene Bildwelt. In „Flugangst“ setzt er zwischen zwei Felsen sehr klein einen Drachenflieger. Mit dieser Metapher kommt er unserer waghalsigen Lebenssituation heute sehr nahe. Gehses Figur segelt knapp zwischen zwei Felsen. Es wäre ihr Ende, sollte sie einen der Felsen streifen. Aus dieser Gefahr entsteht für die Figur ganz real Flugangst, aber der Bildbetrachter erlebt sie zugleich als Gleichnis für das Über-Leben in Bedrängnis, ein Thema, an dem Gehse seit mehr als vierzig Jahren bildnerisch arbeitet. – Ein besonderes eindrucksvolles Beispiel surrealer Bildfindung findet sich in „Unter der Bühne“. Oben ein Vulkanausbruch, in der unteren Hälfte eine gespenstische, eisige Unterwasserwelt. Der Glut der Lava setzt der Maler das Eis entgegen. Das Bild hat sein endgültiges Oben und Unten erst nachträglich gefunden (erst als der Maler es auf den Kopf stellte!). Die Komposition war Ausdruck dafür geworden, wie alles mit allem verbunden ist – der Vulkan mit dem Eisblock. Die auf der Leinwand hergestellte Einheit bildet in der Realität eine kritische Balance. Übrigens: Was hat der Fisch rechts auf dem Bild verloren? Die Unwirklichkeit, die der Maler mit Bilderfindungen wie diesen schafft, befreit das Bild von den Zwängen des Realismus. Gleichzeitig erschwert es seine Interpretation. Aber ist der Fisch nicht großartig gemalt? Wer wollte ihn missen. Kunst muss sich an Logik nicht halten. Gehse tut es nicht.

Wenn der Maler als Schlusspunkt seiner Serie „Kreaturen und Phänomene“ das Bild „Die unter Wasser sieht man doch“ setzt, dann bekräftigt er darin noch einmal das Credo seiner Kunst. Das von ihm als Metapher für entfesselte Kraft und ungezügelte Freiheit so bevorzugte Meer zeigt sich von unsympathischem Meeresgetier bevölkert, dem man besser nicht begegnen will. Auch die maritime Welt – scheint der Künstler sagen zu wollen – ist nicht so idyllisch-friedlich, wie sie auf der Oberfläche erscheint. Gehse tritt bei diesem Bild in einen Dialog mit dem Dichter Bertolt Brecht, der für seine „Dreigroschenoper“ die Schlussverse schrieb: „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht“. – Das Überlebensgesetz Fressen und gefressen werden gilt in Gesellschaft und Natur, also auch unter Wasser. Daraus hat der Maler das Gleichnis für eines seiner wirkmächtigsten Gesellschaftsbilder entwickelt.

Über die meisten Bilder der neuen Serie „Kreaturen und Phänomene“ legt sich eine staunenswerte surreale Phantastik, mit der er die Bildräume erweitert. Damit, aber beispielsweise auch mit den dominierenden Blautönen seiner Bildsprache, macht er sich unverwechselbar. Jedes einzelne der 32 Bilder bietet dem Betrachter, selbst da, wo es rätselhaft bleibt, die Qualität eines optischen Erlebnisses. In der Abfolge entsteht ein genau kalkulierter Rhythmus, der mit den letzten Bildern der Serie – „Treffen am Kap“, „Unter der Bühne“, „Am Fenster“ „Geträumt“ und „Die unter Wasser sieht man doch“ – eine beeindruckende Steigerung erfahren hat. Diese entsteht, weil Albrecht Gehses Gleichnisse weit greifen und unverbraucht sind. Manchmal betrachtet man die Bilder mit angehaltenem Atem. Mir geht es so.

Michael Hametner, März 2024